Sextett-Version

Sascha Lino Lemke (*1976)

< .komm.pluüh.ti.er >

für Saxophon, Akkordeon, E-Gitarre mit Skordatur, Kontrabass mit Skordatur, Schlagzeug & Laptop

Dauer: ca 20 Minuten plus Installation (optional)



< .komm.plüh.ti.er > entstand ursprünglich für das Kieler Computermuseum und das Ensemble Klangrauschen als Hommage an den Computer als Arbeitsgerät, Schreib-, Rechen- und Kontroll-, Klangsynthesemaschine, Live-Elektronik-Steuerer, Klangarchiv, virtuoses Instrument, (scheinbare) künstliche Intelligenz, Sicherheitsleck. In der erweiterten Fassung für das RADAR-Ensemble aus Saxophon, Akkordeon, Gitarre, Schlagzeug, Bass und szenischem virtuosem Laptop-Part umfasst < .komm.plüh.ti.er > zwei Ensemblestücke und eine partizipative Installation. Um die mikrotonale Melo-Harmonik zu ermöglichen, sind die E-Gitarre und der Kontrabass speziell gestimmt, leere Saiten und natürliche Flageolette werden exzessiv ausgenutzt. Im Schlagzeug-Setup sind u.a. extra für das Stück zugesägte Aluröhren im Einsatz, die ihrerseits die mikrotonale Klanglandschaft bereichern. Und der Computerpart steuert u.a. Synthesemaschinen, die präzise intonierte Klangflächen erzeugen, und Sampler, deren Sounds stets in die betreffende harmonische Situation intonatorisch passend hineintransponiert werden.

Der Anfangsteil #1. Startup - Overture / Schreibmaschine inszeniert den Start des Computers und den Auftritt der Musiker und betreibt eine Archäologie der Computerklänge (Startklänge, Lüftergeräusche, Systemklänge etc. Die multiplen, teilweise scheiternden Startversuche gehen einher mit einer zunehmenden morphingartigen Transformation des Systemstartklangs in vielstimmige mikrotonale Klangflächen aus zunehmend verzerrten Spektren. Die Instrumentalisten, die nach und nach die Bühne füllen, imitieren die Computerklänge, übernehmen ihre Tonhöhen aus den Klangflächen, beleben sie zunehmend, musikalisieren sie. Im weiteren Verlauf übernimmt Computerspielerin verschiedenste Rollen, von sekretärinnenhaftem Tippen, das mal rhythmisch lesbare, mal komplexe Texturen ergibt, bis hin zum Musizieren mit einer bunte Palette tonhafter Computersystemklänge, die, ihrer ursprünglichen Funktion entledigt und in die Harmonik der Instrumentalparts hineintransponiert, nun in musikalischen Dialog mit den Instrumenten treten. Der prozessuale Ablauf des Satzes wird scheinbar unvorhersehbar zerschnitten durch "Product Placements"-Einschübe: Vertonungen von Spam, Werbung, Nutzungsbedingungen und Wegklick-Countdowns. Nach dem "Wegklicken" läuft dann die eigentlich Musik weiter, zunächst zumindest...

Als partizipative Pauseninstallation ist "#2. h0m3 sm@rt h0m3. B1nary Study" angelegt, eine naive LoFi-Parodie auf computergesteuerte Smarthomes. Zu Beginn der Pause übernimmt die Maschinerie selbst die Ansage der Pause und erläutert die Installation. Der Ablauf wird kontrolliert von einem Zentralcomputer, der alte Kassettenrekorder, Mundharmonika spielende Staubsauger und ein elektronische verstärktes Ballett aus tanzenden Mischpultreglern steuert. Außerdem verarbeitet er den Input mehrerer Live-Kameras, eines Mikrofons sowie die Inputs der Besucher*innen. So kann das Publikum an Stationen Regler schieben und das Geschehen beinflussen, wobei die Regeln selbst sich im Laufe der Zeit immer wieder verändern und so die Abhängigkeiten zwischen Aktion und Wirkung immer wieder neu erforscht werden müssen: Mal wird das Mixing von realen ("überwachungs"-)Live-Kameras und Aufgezeichnetem kontrolliert, mal ein großen Klangarchiv von Computersounds instrumental spielbar, mal werden die externen alten LoFi-Spieler Staubsauger und Kassettenrekorder steuerbar. Aktionen am Mikrofon scheinen zunächst nutzlos, weil nicht einmal verstärkt zu werden, erwecken aber eine skurille Boygroup künstlicher Computerstimmen auf den Plan, die Texte wie "Wir sagen Dir, was Du denkst. [...] Wir sagen Dir was Du fühlst. [...]" in spektralen an die Instrumentalteile erinnernden Harmonien singen. Im Laufe der Zeit wird klar, dass aber auch der Mikrofoninput aufgezeichnet wurde (die Maschine vergisst nichts) und in Graden zwischen absoluter Verständlichkeit und extremer Transformation im Saal hörbar wird.

Der letzte Teil "#3. HAL's Lullaby" wird wieder vom Instrumentalensemble plus Elektronik gespielt und thematisiert in Anlehnung an Kubricks 2001 den Versuch des Abschaltens der Maschinerie. Der legendäre böse Computer HAL selbst hat hier seinen Gastauftritt. Sein Schlaflied verwandelt sich in eine mikrotonale Berceuse des Ensembles aus Akkorden die Ausschnitte aus Obertonspektren darstellen und eine starken Grad von Verschmelzung erzeugen. Durch das ganze Stück ist eine unglaublich langsam absinkende mikrotonale, zunehmend verrauschte Akkordstruktur zu hören, eine Art Hommage an die während des Abschaltvorgangs immer tiefer sinkende und dann erlöschende Stimme Computers in 2001. Die Akkorde entstehen aus unterschiedlich schnellen Glissandolinien eines Frequenzmodulations-Algorithmus. Die Akkordstimmen stehen zwar stets in präzisen harmonischen Verhältnissen, in bestimmten Momenten allerdings nähern sich die Stimmen besonders reinen Obertonakkorden an. Häufig treffen sich hier zwei Glissandi in einem Ton. Kurz bevor der reine Klang erreicht wird, wird seine Gravitationskraft schon spürbar: Schwebungen werden als Puls hörbar, das Pulsieren wird immer langsamer, bis es beim Erreichen des reinen Klanges zum Stehen kommt. Beim Weiterwandern der Glissandi entsteht wieder jenes Pulsieren, wird immer schneller, bis es nicht mehr hörbar ist. Bei jeder der erreichten neuen Stationen eines reinen Obertonakkords, wechselt das Ensemble mit seiner Berceuse in diesen neuen Akkord. Durch den Satz geistert insgeheim der Vater des Computers Konrad Zuse selbst und kommentiert die Zukunft des Computers. Wenn der Computer es zulässt, wird er auch kurzzeitig für das Publikum hörbar. Der Versuch, die Maschinerie endgültig abzuschalten scheitert jedoch. Es muss genug parallele Backup-Systeme geben, denn weiterhin melden sich die "Product Placements"-Einschübe, die Vertonungen von Spam, Werbung, Nutzungsbedingungen und Wegklick-Countdowns, zu Wort, zerschneiden die ruhiger werdende Ausschaltmusik. Am Ende gibt es gar Werbung für das Ensemble und den Komponisten, womit der Zyklus dann auch endet.

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