Sascha Lino Lemke (*1976)
Atemschaukel (2021)
für Sopran, Gitarre con scordatura & Streichorchester (3-2-2-2-1)
Kompositionsauftrag für Hamburg Dialogues 2021
Singen entsteht aus dem Ein- und Ausatmen, einer "Atemschaukel". Beim Akkordeonspiel, das sich ebenfalls dem ziehenden "Einatmen" und dem "Ausatmen" beim Zusammendrücken des Instruments verdankt, ist diese Figur ebenfalls deutlich sichtbar. Meine ganze Komposition arbeitet mit dieser elementaren Grundgeste. Nach den schnellen regelmäßigen "Ausatmern", mit denen die Sängerin das Stück eröffnet, wird das Ein- und Ausatmen von Sängerin und Akkordeon spielerisch durchdekliniert und von der Gitarre verstärkt: die Geste ist zunächst sehr schnell, wird dann langsamer, rhythmisch flexibel variiert, von den Beteiligten ineinander verschachtelt gespielt. Global betrachtet kann das ganze Stück als eine zunehmende Verlangsamung der zu Beginn kurzen, halbsekündigen Atemfigur gehört werden, bis es am Ende mit einem enorm vergrößerten siebensekündigen Ensembleausatmen schließt. Schaukelt der Atem zwischen Ein- und Ausatmen hin und her, so bilden sich im Verlauf noch diverse andere Schaukel-Paare von Klängen aus: Die Gitarre spielt z.B. Phrasen aus je zwei arpeggierten Akkorden. Die Streicher verbinden hohes Tremolo und tiefes schnarchartiges Scratchen zu einer Geste und in den teilweise choreografisch auskomponierten Auf- und Abstrichbewegungen der Streicher spiegelt sich das Schaukeln ebenfalls wieder. In der zweiten Hälfte bieten Sängerin und Akkordeon Phrasen aus gehaltenen crescendierenden Zweiklängen und schnellen fallenden Arabesken dar.
Das Stück gliedert sich in zwei Teile. Im ersten etabliert sich die Atemidee und verlangsamt sich, während die arpeggierten mikrotonalen Schaukelakkorde der Gitarre immer schneller werden, bis das Ensemble eine Oberton-Akkordfläche erreicht. Die anfängliche innere Bewegung dieser Akkordfläche ebbt ab, bis die Musik stehenzubleiben scheint wie eingefrohren. Doch dann löst ein Gitarrenakkordarpeggio ein unendlich langsames Absacken des Akkords aus, das bis kurz vor Schluss des Stücks andauert. Der zweite Teil von "Atemschaukel" setzt sich aus drei Schichten zusammen. In den Streichinstrumenten gibt diesen einen Akkordschleier, der in Zeitlupe abwärts gleitet. Die nach Prinzipien der elektronischen FM-Synthese erfundenen einzelnen Stimmen spielen ihre Glissandi dabei nicht parallel, sondern in unterschiedlichen Tempi, so dass sich auch die Zusammenklänge langsam, aber stetig transformieren, sich dabei immer wieder einfacherer Spektralakkorden nähern und sich wieder von ihnen entfernen, kurz vor Schluss sogar durch einen E-Dur-Akkord gleiten. Über dieser flächigen Schicht spielen Gitarre und tiefe Streicher zwei perkussionsartige rhythmische Schichten, die ganz allmählich langsamer und rhythmisch regelmäßiger werden. Sängerin und Akkordeon musizieren im Duo die oben beschriebene Geste aus anwachsendem gehaltenem Zweiklang und abschließender abfallender Arabeske.
Alle Schichten treffen sich im Epilog zu einem sehr langsamen Orchesteratmen. Das "Einatmen" besteht aus einschwingenden tonhaften Flächen, das "Ausatmen" aus ausklingenden Rauschklängen. Diese Schaukelfigur, eine 14fache zeitliche Dehnung der anfänglichen Atemschaukel, wird zunehmend durch Fermaten unterbrochen, bis das Stück stehenbleibt und zuende ist.
Während des Komponierens begleitete mich Herta Müllers Roman "Atemschaukel", dem der Titel entliehen ist. Die Musik versucht nicht, konkrete Momente des Romans zu vertonen. Doch haben mich die im Roman beschriebenen existenzielle Erfahrungen des eigenen Körpers und des Atems sehr beeindruckt und mögen sich auf die ein oder andere Weise in der Komposition niedergeschlagen haben, ebenso wie die Tendenz zur strengen selbst auferlegten Choreografie und motivisch-thematischen Durchführung körperlich empfundener (Klang-)Bewegungen, die in der Partitur beim Schreiben ein Eigenleben entwickelt haben.