Sascha Lino Lemke (*1976)
FALL \ STUDIE(n)
oder:
...der ungesicherte Mensch
(2012)
für große Flöte / Bassflöte, Klarinette in B / Bassklarinette in B, Streichtrio con scordatura, Klavier / Keyboard & Schlagzeug
Kompositionsauftrag der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, finanziert durch die Ernst von Siemens Musikstiftung
dem ensemble recherche gewidmet
Uraufführung: 19.06.2012, Bayerische Akademie der Schönen Künste
Die FALL \ STUDIE(n) sind ein weiterer Versuch in Richtung einer andersartigen melo-harmonischen Sprache jenseits der temperierten Stimmung. Verwirft man die Oktave und ihre Einteilung in 12 Halbtonschritte, findet man sich in einem Kontinuum unendlich vieler möglicher Tonhöhen wieder. In diesem Stück sind es die Streicher, die in diese unendliche markierungslose Landschaft neue "Landmarken" einschlagen und so das Terrain abstecken, das in diesem Werk erforscht wird. Praktisch geschieht es durch die Umstimmung der Streicher auf eine mikrotonale Skordatur. Die Streicher haben nach der Umstimmung ein Feld komplexer Mikrotöne zur Verfügung, die relativ einfach spielbar, weil mechanisch leicht auffindbar sind, die nicht erst mit Hilfe des Ohres erlernt werden müssen. Es handelt sich um die leeren Saiten und die Naturflageolets. Diese geben dem Tonraum nun eine neue Ordnung.
Was sind nun die Eigenschaften der Scordatur? Die leeren Saiten werden so umgestimmt, dass zum einen je zwei leere Saiten von je zwei Streichinstrumenten einen aus der Teiltonreihe abgeleiteten Akkord aus den Teiltönen 7, 9, 11 & 15 ergeben. So ergeben sich 3 Akkorde, gedacht auf B (dem tiefsten Ton der Bassklarinette), auf einem um einen Sechstelton zu hohem As sowie auf einem um einen Sechstelton zu tiefen G. Mit Hilfe der Naturflageolets lassen sich diese Akkorde zudem noch transponieren. In diesem Stück wird die Quinttransposition und die Großterztransposition verwendet, so dass insgesamt 9 verschiedene Grundtöne dieses Akkordes auftreten. Neben diesen spektralen Akkorden hat die Scordatur noch eine andere Eigenschaft, die sich in den genannten Grundtönen bereits spiegelt: B - As plus 1/6-Ton - G minus 1/6-Ton. Die Grundtöne bilden Sekunden, die zwischen der großen und der kleinen Sekunde liegen, in etwa 166 Cent groß. Dies ist ein Intervall, das ich sehr liebe. Es befindet sich in der Teiltonreihe zwischen dem 10. und 11. Teilton, kann in verschiedener Obertontechniken verwendenden Musik, sei sie folkloristisch oder intellektualistisch gefunden werden, auf dem Naturhorn, den Flageoltglissandi der Streicher... Im traditionellen Kontext der Teiltonreihe ist es das Intervall zwischen der perfekt intonierten Durterz und der quasi lydischen Quart in just Intonation. Dieses Intervall ist ein zweiter wichtiger Bestandteil der harmonischen Welt dieses Stücks. Bringt man drei dieser Sekunden, so erreicht man die reine Quart. Dieser Klang, der die archaische wohlbekannte reine Quart mit der exotischen zu kleinen großen Sekund füllt, ist ebenfalls in der Skordatur angelegt.
Damit der Pianist an der mikrotonalen Welt des Stückes teilhaben kann, spielt er neben dem Konzertflügel ein MIDI-Keyboard, das einen Laptop steuert. Auf dem Laptop werden dann durch ein für dieses Werk geschriebenes Programm zusätzliche Klänge ausgelöst, meist Klavierklänge jenseits der temperierten Stimmung, bisweilen auch glissandierend.
Das Werk setzt sich aus sieben in einander übergehenden Studien zusammen, die nun im einzelnen kurz beschrieben seien.
I. Préambule en ballet. Mechanisch präzise wie ein Uhrwerk
Die sieben Musiker bilden eine Art Meta-Instrument, wirken zusammen wie eine bizarre Spieluhr, die - stöhnend, stolpernd, knackend, in zahlreichen Anläufen, immer wieder sich verlierend in Wiederholungen, Sackgassen und Nebenwegen - allmählich ihr Repertoire an Tönen preisgibt. Diese bilden nach und nach eine sehr merkwürdige absteigende hyperchromatische Skala mit extrem kleinen und unregelmäßigen Schritten. Im Laufe der Préambule entstehen weitere konkurrierende Linien, einige im Sande verlaufend, andere folgenschwer. Die Maschine fördert durch Hängetöne und weiteren Sand im Getriebe verschiedenste Schwebungen, Differenztöne, Klänge aus folgenden Teilen zutage.
II. Transitoires
Der zweite Abschnitt enthüllt die in den leeren Saiten angelegten spektralen Akkorde, jeweils nach langsamen Glissandi, die aus dem Unisono über Schwebungen in die Zielakkorde gleiten. Als Reminiszenz an den ersten Teil taucht in den Streichern in Form von zwei hoquetusartigen Abwärtsbewegungen die Materialskala des Stücks nochmals auf.
III. Ballade des spectres
Eine aufgewühlte Ballade, in der nun die 9 spektralen Akkorde zum Vibrieren gebracht werden.
IV. Quasi una fantasia accompagnata
Die vierte Studie ist eine Art begleitete Klavierkadenz, eine ausnotierte Fantasie über die 9 Akkorde der vorausgegangenen Ballade. Die Klänge werden aus Clustern herausgefiltert, die Differenz zwischen dem nun temperiert intonierten Akkord und der reinen Stimmung thematisiert.
V. Organum (3 x 10:11 ca. 3:4)
Die fünfte Studie ist eine Art Parallelorganum. Der parallel geführte Klang besteht aus der archaischen reinen Quarte als Rahmenintervall, das mit zwei weiteren Tönen gefüllt wird. Zwei Nachbartöne bilden dabei immer eine um einen Sechstelton "zu kleine" große Sekunde, meine 10:11-Sekunde. Dieser Klang hat einerseits etwas sehr Einfaches durch die reine Quart, gleichzeitig durch die Füllung mit den komplexeren Sekunden ergeben sich aparte weiche Clusterflächen mit recht tiefen Resonanzen. Dieser Klang taucht nun in verschiedensten feinen und groben Rückungen auf, bildet melodische Ansätze, wird zur äquidistanten Skala aufgebrochen usw.
VI. Corale
Die Hauptschicht des Chorals bilden von den Streichern kräftig gespielte Oktaven, Quinten, Quarten, große Terzen und kleine Sexten in "just intonation", also surrend und schwebungsfrei rein gespielt. Diese Intervalle werden immer als Doppelgriff auf einem Instrument gespielt und jeweils zu einer leeren Saite intoniert. Die wohlvertrauten Intervalle folgen einander in merkwürdigen mikrotonalen Verbindungen, bilden Lamentophrasen, skurrile Clauseln (Schlusswendungen), überlagern sich bisweilen zu komplexeren Akkorden. Dieser Hauptschicht ist eine Schattenschicht zugesellt, die die Zweiklänge harmonisch einfärbt. Diese wird von den Steel Pans und den Bläsern gespielt.
VII. Descente vers l'inachevé
Die letzte Studie besteht aus vier Schickten. Da ist zum einen eine Art Ostinato aus zwischen den Instrumenten abwechselnden Geräuschglissandi. Dazu spielt der Pianist eine in feinen Schritten fallende harmonische Struktur und "versenkt" so quasi das "Klavier" allmählich in der Tiefe/stellt der Klaviermaschine den Strom ab. Die dritte Schicht präsentiert zum letzten Male die 9 spektralen Akkorde des Stücks; ihr Erscheinen richtet sich nach der absteigenden Basslinie des Pianisten, so dass diese sich den Akkorden annähert, kurzzeitig rein zu diesen steht, sie dann aber auch wieder verlässt, indem sie über Schwebungen weiterläuft. Die vierte Schicht aus perkussiven Klavierklängen "morst" dazu noch einmal das rhythmische Material des Stücks. Eine kurze Schattencoda, in der die Scordatur und die typische Sekund noch einmal durchscheinen, beendet das Stück.
Der Untertitel "...der ungesicherte Mensch" entstammt einem Interview mit György Ligeti:
"...aber mein Medium ist der ungesicherte Mensch, und ich will die Fehler und Abweichungen..."
Ligeti, der seine Kompositionen häufig als Experimente zu einen spezifischen Problem sah, das nicht selten von psychoakustischen oder anderen Erkenntnissen der Wissenschaften inspiriert war, wollte seine Musik trotz der höheren Präzision einer Maschine unbedingt von musizierenden Menschen dargestellt wissen und sah gerade in der feinen Differenz zwischen perfekter Idealvorstellung und der Interpretation einen großen poetischen Reiz.
Dieser so wunderbar formulierte Satz hat mich eine Weile begleitet und schien mir (anders verstanden) zudem gut zu meiner Tonhöhenwelt zu passen, dem dünnen Seil etwa, auf dem sich die Musik zu Beginn in das Stück hineintanzt, oder der sich unvorhersehbar im freien Tonraum abwärts tastenden Linie der sich nur an den leeren Saiten "festhaltenden" Intervalle der Streicher im Corale. Er findet sich auch untergründig in zerstäubter Form und manchen Konstruktionen in den FALL\STUDIE(n) wieder. Doch: "C'est la cuisine", wie mir einmal ein französischer Kollege sagte - und man muss beim Essen ja nicht immer wissen, wie es dort ausgesehen hat...