Sascha Lino Lemke (*1976)
Lo ferm voler (2016)
Sestina pour soprano, flûtes-à-bec, piano et électronique d'après Arnaut Daniel
Auftragswerk von Pierre de Chambure für Juliette de Massy, Marion Fermé, Jennifer Hymer
Das Trio "Lo ferm voler" für Sopran, Blockflöten, Klavier und Elektronik ist inspiriert durch die berühmte gleichnamige okzitanische Sestina von Arnaut Daniel, dem Troubadour des 12. Jahrhunderts, von dem Dante schrieb, er sei der beste Schmied der Muttersprache. Seine Sestina besteht aus 6 Strophen mit jeweils 6 Zeilen mit einer zusätzlichen abschließenden "Tornada". In jeder Strophe beenden die 6 Zeilen dieselben 6 Schlüsselwörter, jedoch werden die Endwörter nach einem strengen Algorithmus (6-1-5-2-4-3) in jeder Strophe neu permutiert und tauchen alle auch noch ein letztes Mal in der "Tornado" am Schluss auf, zusammen mit dem grüßenden Dichter, der sich mit Namen verewigt hat. Auf diese Weise scheint die Sestina obsessiv in sich zu kreisen, kehrt immer wieder zu den selben Wörtern zurück, die jedoch jedesmal in einem neuen Bedeutungszusammenhang stehen. Die Schlüsselwörter lauten: "intra" (eintreten/eindringen), "ongla" (der Nagel, der Fingernagel), "arma" (die Seele), "verga" (die Rute, auch: das männliche Geschlecht), "oncle" (der Onkel), "cambra" (das Zimmer). In guter Troubadour-Tradition beschreibt die Sestina die "fin' amor", eine intensiv empfundene Liebe, die jedoch durch die äußeren Umstände erschwert, wenn nicht unmöglich vor allem Anbetung der Geliebten bleibt.
Zum Text der Sestina existiert auch eine alte Melodie. Als Auftragswerk für ein Programm mit neuen Motteten komponiert greift mein Stück diese Melodie auf und streckt sie über den gesamten 6-minütigen Hauptteil, ganz im Sinne des Tenors einer alten Motette, in der auf oft eine bereits existierende Melodie zum langsamen Gerüst wurde, das dann von virtuoseren Stimmen umrankt wurde. Diese Melodie wurde mit mikrotonalen Akkorden harmonisiert und mit dem Silben der 6. Strophe textiert. Sie ist zu Beginn sehr langsam, zwischen den einzelnen Melodietönen der Sängerin bzw. den Akkorden vergeht viel Zeit.
Umrankt und durchlöchert wird dieses Gerüst von den sehr virtuos und geräuschhaft gesetzten Strophen 1 bis 5, wobei sich die drei Musikerinnen im Sinne eines alten Hoquetus und in unterschiedlich komplexen Polyphonien so ergänzen, dass sich diverse Echos zwischen ihnen ergeben. Blockflöte und Gesang, aber auch die Aktionen am Klavier werden zu einem dreiköpfigen unauflöslichen Ganzen. Dabei spielt zum einen die Idee der Athmpshäre des Textes, die Heimlichkeiten, das Versteckte in der Kammer, durch deren Wand man Dinge wahrzunehmen glaubt eine Rolle. Auch werden Fingernägel und Ruten zu Musikinstrumenten. Zum anderen sind Form und Rhythmus mit Hilfe von Prozeduren komponiert, die den Permutationen der Schlüsselwörter durch Arnaut Daniel abstrakt nachempfunden sind.
Im Laufe des Stücks wird die ursprünglich langsame Schicht der alten Melodie und die dazu erfundenen Akkorde zunehmend schneller, drängt die virtuose geräuschhafte Schicht in den Hintergrund und erlaubt es dem Hörer am Ende des Trio zunächst den Schluss der 6. Strophe zusammenhängend zu hören und dann als Epilog die Tornada leicht verfremdet als Beinahe-Enthüllung des Originals zu erhaschen.
Lo ferm voler q'el cor m'intra
no'm pot ies becs escoissendre ni ongla
de lausengier, qui pert per mal dir s'arma
e car non l'aus batr'ab ram ni ab verga
si vals a frau lai o non aurai oncle
jauzirai joi, en vergier o dinz cambra.
Qan mi soven de la cambra
on a mon dan sai que nuills hom non intra
anz me son tuich plus que fraire ni oncle
non ai membre no'm fremisca, neis l'ongla
aissi cum fai l'enfas denant la verga
tal paor ai no'l sia trop de l'arma.
Del core li fos non de l'arma
e cossentis m'a celat deniz sa cambra
que plus mi nafra'l cor que colps de verga
car lo sieus sers lai on ill es non intra
totz temps serai ab lieis cum carns et ongla
e non creirai chastic d'amic ni d'oncle.
Anc la seror de mon oncle
non amei plus ni tant per aqest'arma
c'aitant vezis cum es lo detz de l'ongla
s'a liei plagues volgr'esser de sa cambra
de mi pot far l'amors q'inz el cor m'intra
mieills a son vol c'om fortz de frevol verga.
Pois flori la seca verga
Ni d'en Adam mogron nebot ni oncle
tant fin'amors cum cella q'el cor m'intra
non cuig fos anc en cors ni eis en arma
on q'ill estei fors on plaz' o dins cambra
mos cors no' is part de lieis tant cum ten l'ongla.
C'aissi s'enpren e s'enongla
mos cors e lei cum l'escorss'en la verga
q'ill m'es de joi tors e palaitz e cambra
e non am tant fraire paren ni oncle
q'en paradis n'aura doble joi m'arma
si ja nuills hom per ben amar lai intra.
Arnautz tramet sa chanson d'ongl'e d'oncle
a grat de lieis que de sa verg'a l'arma
son Desirat cuit pretz en cambra intra.
Versuch einer englischen Übersetzung (dabei wird der Sinn notwendigerweise eingeschränkt interpretiert):
The firm desire that enters
my heart no beak can tear out, no nail
of the slanderer, who speaks his dirt and loses his soul.
And since I dare not beat him with branch or rod,
then in some secret place, at least, where I'll have no uncle
I'll have my joy of joy, in a garden or a chamber.
When I am reminded of the chamber
where I know, and this hurts me, no man enters--
no, they're all more on guard than brother or uncle--
there's no part of my body that does not tremble, even my nail,
as the child shakes before the rod,
I am that afraid I won't be hers enough, with all my soul.
Let me be hers with my body, not my soul,
let her hide me in her chamber,
for it wounds my heart more than blows from a rod
that where she dwells her servant never enters;
I will always be as close to her as flesh and nail,
and never believe the reproaches of brother and uncle.
Not even the sister of my uncle
did I love more, or as much, by my soul,
for as familiar as finger with nail
I would, if it pleased her, be with her chamber.
It can do more as it wills with me, this love that enters
my heart, than a strong man with a tender rod.
Since the flower was brought forth on the dry rod,
and from En Adam descended nephews and uncles,
a love so pure as that which enters
my heart never dwelt in body, nor yet in soul.
Wherever she stands, outside in the town or inside her chamber,
my heart is not further away than the length of a nail.
For my heart takes root in her and grips with its nail,
hold on like bark on the rod,
to me she is joy's tower and palace chamber,
and I do not love brother as much, or father, or uncle;
and there'll be double joy in Paradise for my soul,
if a man is blessed for loving well there and enters.
Arnaut sends his song of the nail and the uncle,
to please her who rules his soul with her rod,
to his Desired, whose glory in every chamber enters.