Sascha Lino Lemke (*1976)
"Netze spinnen # Spinnennetze" (2007)
Hommagio a György Ligeti
for quintet.net
for five laptop musicians & one video performer
Auftragswerk von Bipolar
Dauer: ca. 15 min.
"Ich habe einen irrsinnigen Abscheu vor Spinnen. [..] Doch die Netze sind wunderschön! Ich kenne einen schwedischen Spinnenforscher [...] Zum Beispiel hat er den Spinnen LSD gegeben. Sie machen dann verrückte Spinnennetze."
aus: "Träumen Sie in Farbe?" - György Ligeti im Gespräch mit Eckhard Roelke
Paul Zsolnay Verlag, Wien, 2003
Immer wieder faszinieren mich die ersten Seiten von György Ligetis Violinkonzert: Obwohl "Vivacissimo luminoso" überschrieben ist für jedes Sechzehntel des schnell pulsierenden rhythmischen Gitternetzes das harmonische Resultat mit unglaublicher Akribie und klarem kompositorischem Willen ausgearbeitet. Die einzelnen Streicherstimmen, die selbst bereits durch die Verwendung von schnellen Spielfiguren mit leeren Saiten und Naturflageolets, Arpeggien über alle Saiten oder Naturflageoletglissandi auf einer Saite strengen limitierten Möglichkeiten gehorchen, fügen sich Sechzehntel für Sechzehntel zu Akkorden zusammen, die uns im langsamen Tempo merkwürdig bekannt vorkommen würden: Dur- und Mollakkorde, Septakkorde und Sixte-ajoutées, "Major seven"-Jazzakkorde und manches mehr. Die Syntax dieser Akkordverbindungen ist dabei nie schematisch, sondern scheint aus sukzessiven immer wieder neu vollzogenen persönlichen Entscheidungen entstanden. Bisweilen sind nicht nur die Akkordtypen Relikte der Tradition, partiell werden gar klassische Akkordverbindungen zitiert. Diese Anspielungen werden jedoch zum einen durch mikrotonale Verfremdungen verzerrt. Zum anderen entsteht durch das enorme Tempo ein ähnlicher Effekt wie bei extrem schnellen Bildwechseln im Film: anstelle einer bewu§t-analytischen Wahrnehmung, stellt sich die Frage, was sich unbewu§t ins Gedächtnis eingräbt.
Der Ausgangspunkt meiner Komposition ist eben jenes pulsierende dal niente des Violinkonzertanfangs, ein feines rhythmisches Pulsnetz, auf das mikroskopisch kurze Ausschnitte von Werken Ligetis gesetzt werden. Einzelne Klangtypen bilden mit der Zeit bestimmte sich überlagernde Temposchichten aus, die die polyrhythmischen Experimente Ligetis reflektieren und aus der Perspektive der elektronischen Möglichkeiten heraus weitergedacht werden. Von dort aus begibt sich das Stück auf eine musikalische Reise, die einzelnen Forschungsgebieten Ligetischen Musikdenkens und -schaffens Referenz erweist, die für mich persönlich besonders wichtig sind. Dazu zählen üa. Parallelität von Temposchichten, Hörillusionen, mikrotonale Harmonik zwischen Just Intonation, Verzerrung bekannter Gebilde und Manierismus, Mikropolyphonie, Klangfarbenmelodik und manches mehr. Dabei geht es auch immer wieder um die Frage des Transfers auf das Medium der elektronischen Musik, das Ligeti nach der Realisation seiner zwei elektronischen Kompositionen zu Beginn seiner Zeit in Westeuropa dann nicht mehr angerührt hat.
Das Stück wird speziell für Quintet.net konzipiert, dem eigentlichen (Software-)instrument des European Bridges Ensembles, auf dessen Anregung es entsteht. Quintet.net ist eine von Georg Hajdu entwickelte, erweiterbare Softwareumgebung, die es bis zu fünf Spielern erlaubt, im Netzwerk miteinander zu musizieren sowie mit Video zu arbeiten. Ein "Dirigent" leitet dabei das Ensemble und verschickt Partituren und Anweisungen. Im Falle des European Bridges Ensembles arbeiten fünf Interpreten mit Klang und einer mit Video.
Die Möglichkeiten dieses Instruments reflektierend, wird die Komposition verschiedene Grade und Mischungen von Notation (bzw. Präfabrikation) und Improvisation beinhalten. Von vorproduzierten Zuspielungen bis zu graphisch gelenkten Konzeptimprovisationen, von exakt notierten, zu musizierenden Strukturen bis zum interaktiven Steuern einzelner manipulierbarer Parameter einer seinen eigenen Gesetzmä§igkeiten gehorchenden Klangmaschinerie Ð in diesem Spannungsfeld wird jede Aufführung des Stückes angesiedelt sein.
Das Grundmaterial der Hommage sollen Samples aus Aufnahmen verschiedenster Werke von György Ligeti bilden, wobei es weder darum geht, ein Potpourri, noch ein Quiz auf die Bühne zu bringen. Vielmehr handelt es sich in der Regel um eher kurze Fragmente, die denAusgangspunkt von kompositorisch-technischen Transformationen bilden, die zwar durchaus einmal blitzartig ihre Identität enthüllen mögen, die meiste Zeit aber in cognito bleiben.
Die Dauer beträgt in etwa 15 Minuten, wobei das Stück aus zwei in etwa gleich gro§en, auch getrennt spielbaren Einheiten bestehen wird. Auf diese Weise könnte im Rahmen der Bipolar-Veranstaltung der erste "Satz" z.B. zu Beginn des Abends, der zweite nach der Pause aufgeführt werden oder am Ende des Konzerts stehen.